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Kompetenzen für digitale Teilhabe in einer diversen Gesellschaft

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Kompetenzen für digitale Teilhabe in einer diversen Gesellschaft

Die Diversität der Gesellschaft und die damit einhergehenden Machtstrukturen spielen in digitalen Kommunikationsumgebungen in vielerlei Hinsicht eine Rolle. Entlang der Themen „Teilhabe“ und „Diskriminierung im Internet“ wird im Folgenden diskutiert, wie sich die Diversität der Gesellschaft in digitalen Medien manifestiert und welche Rolle digitale Kompetenzen hierbei spielen können.

Teilhabe, digitale Kompetenz und Ungleichheit

Die Nutzer*innen digitaler Medien sind vielfältig in Bezug auf ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre ethnische Herkunft und ihren sozioökonomischen Status. Sie sind damit von Ungleichheiten betroffen, die von ihrer soziokulturellen Position abhängen, und haben ungleiche Partizipationsmöglichkeiten in digitalen Umgebungen (Wischerman und Thomas 2008) [1] . Die soziokulturellen Ungleichheiten führen damit auch zu digitalen Ungleichheiten auf verschiedenen Ebenen (Helsper 2021) [2] . Sie entstehen nicht nur mit Blick auf den Zugang zu digitalen Medien, sondern auch aufgrund von Unterschieden in digitalen Kompetenzen und dementsprechend unterschiedlichen Erfahrungen, die Menschen durch ihre Nutzung von digitalen Medien machen (Helsper 2021). Besonders benachteiligt sind hierbei Frauen (Bhandari 2019) [3] , ethnische Minderheiten (Watkins and Cho 2018) [4] , Menschen mit Behinderung (Goggin 2017) [5] sowie Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status (van Deursen und Helsper 2015) [6] .

Daneben entstehen in digitalen Welten aber auch spezifisch „digitale“ Ungleichheiten, die mit mangelnden digitalen Kompetenzen erklärt werden können. Das heißt, dass diejenigen, die mehr Erfahrung und Kompetenzen im digitalen Bereich haben, auch bessere Chancen der Partizipation in der digitalisierten Welt haben. Diese Kompetenzen beziehen sich auf das kritische Wissen über digitale Umgebungen sowie auf technisch-instrumentelle Fähigkeiten. Obwohl digitale Kompetenzen unterschiedliche Definitionen haben, können die hier relevanten Kompetenzen, als kleinster gemeinsamer Nenner in vier Kategorien zusammengefasst werden: (1) technische und operative Kompetenzen; (2) Kompetenzen der Informationsnavigation und -bearbeitung; (3) Kommunikations- und Interaktionskompetenzen und (4) Kompetenzen der Inhaltskreation und -produktion (Helsper et al., 2020) [7] .

Während digitale Medien neue Formen von Ungleichheiten produzieren bzw. existierende Ungleichheiten reproduzieren können, bringen sie auch neue, empowernde Handlungsmöglichkeiten für Menschen in marginalisierten Positionen. Dabei haben diese beispielsweise die Möglichkeit, sich mit Menschen jenseits ihrer lokalen Umgebungen zu vernetzen, die ebenfalls marginalisiert sind. Das Teilen und die Sichtbarkeit ihrer Erfahrungen kann zu Vergemeinschaftung, Ermächtigung und/oder Mobilisierung führen (Erigha und Crooks-Allen 2020) [8] . Des Weiteren entstehen durch das Internet neue Märkte, die auch kleinere Gruppen in der Gesellschaft adressieren und mit denen eine gewisse Diversifizierung der Medieninnhalte verbunden ist.

Diskriminierung im Internet: soziale Netzwerke und KI-Systeme

Obwohl die sozialen Netzwerke theoretisch offene Kommunikationsplattformen anbieten, sind hier die Meinungen von Menschen in gesellschaftlichen Dominanzpositionen deutlich präsenter (Schradie 2011) [9] . Menschen im globalen Norden, Männer, besser Ausgebildete und junge Menschen produzieren die Mehrheit der nutzer*innengenerierten Inhalte. Ein Grund für die Unterrepräsentation marginalisierter Menschen liegt an den oben diskutierten digitalen Ungleichheiten. Weitere Gründe können negative Erfahrungen dieser Menschen und diskriminierende Inhalte im Internet sein. Menschen, die im Offline-Leben aufgrund ihres Geschlechts oder ihres sozioökonomischen Status oder ethnischen Hintergrunds marginalisiert sind, machen auch im Internet deutlich mehr negative Erfahrungen mit Diskriminierung, Hassrede und Bullying (Weinstein et al. 2021) [10] . Zudem sind die Darstellungen marginalisierter Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen im Internet häufig von Diskriminierung und Stereotypen geprägt. Beispielsweise werden syrische Geflüchtete in den sozialen Netzwerken vornehmlich als Opfer oder als Bedrohung dargestellt (Bozdag und Smets 2017) [11] .

Diskriminierung und Hass gegen marginalisierte Menschen zeigen sich in digitalen Kommunikationsumgebungen nicht nur in den sozialen Netzwerken. Sie sind auch ein fester Bestandteil von Datafizierungsprozessen. Somit führen beispielsweise KI-Systeme häufig zu Entscheidungen, die Frauen, Schwarze und asiatische Menschen, LGBTQ*-Gemeinschaften oder sozioökonomisch benachteiligte Menschen diskriminieren. KI-Systeme basieren auf existierenden Datensätzen, die gesellschaftliche Machtstrukturen widerspiegeln. Obwohl heute mehr Bewusstsein über die Auswahleffekte (Bias) der KI-Systeme existiert, werden diese dennoch in wichtigen Entscheidungsprozessen genutzt. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung von KI für die Entscheidungen des niederländischen Steueramtes. Durch im System angelegte Auswahleffekte wurden hier Familien mit Migrationshintergrund und niedrigem sozioökonomischen Status fälschlicherweise überdurchschnittlich häufig als Steuerbetrüger*innen markiert und finanziell zur Rechenschaft gezogen (Dancu 2021) [12] . Die sogenannte „Toeslagen-Affäre“ gelangte an die Öffentlichkeit und führte zum Rücktritt der Regierung 2021. Ähnliche Beispiele von Diskriminierung durch KI-Systeme sind überall zu finden (siehe für die Diskussion verschiedener Beispiele: https://datatron.com/real-life-examples-of-discriminating-artificial-intelligence/).

Die genannten Beispiele verdeutlichen: Diskriminierung in digitalen Umgebungen ist nicht nur eine Frage der individuellen Handlungen und Kompetenzen. Es ist jedoch wichtig, in unserer höchst digitalisierten Gesellschaft durch Bildung ein kritisches Bewusstsein zu diesen Themen zu schaffen. Das Konzept der inklusiven Medienbildung, das wir zusammen mit Annamaria Neag und Koen Leurs ausgearbeitet haben, bezieht sich auf solche Fragen (Neag, Bozdag, Leurs 2022) [13] . Medienbildung sollte demnach nicht nur Minderheiten adressieren, sondern allen Bürger*innen bewusst machen, wie Diskriminierung in digitalen Umgebungen entsteht und wozu sie führen kann. Es geht bei einer inklusiven Medienbildung auch um interkulturelle Kommunikationskompetenzen, die bei allen einen besseren und respektvollen Umgang mit unterschiedlichen Diversitätsaspekten erzielen sollten.

Diversität und digitale Medien: eine Aufgabe der Individuen?

Digitale Kompetenzen können individuellen Nutzer*innen in diversen Gesellschaften helfen, die digitalen Medien effektiver zu nutzen und an gesellschaftlichen Diskursen teilzunehmen. Meine Forschung im Rahmen des Forschungsprojekts INCLUDED (gefördert durch die Marie Sklodowska Curie Actions, Horizon 2020) untersucht die Rolle der Schule für die Entwicklung digitaler Kompetenzen von jungen Menschen durch eine partizipatorische Aktionsforschung in einem diversen und sozioökonomisch benachteiligten Stadtteil von Bremen. Den meisten Jugendlichen, die in diesem Projekt interviewt wurden, fehlen sowohl finanzielle Ressourcen als auch wichtige digitale Kompetenzen, um effektiver mit digitalen Medien umgehen zu können. Die Ergebnisse dieser Forschung weisen auch auf den Kontrast zwischen den Lebenswelten der Jugendlichen, die sehr stark von einer multilingualen Nutzung von digitalen Medien geprägt sind, und dem Schulprogramm hin, das diverse Umgangsformen mit digitalen Medien und digitale Kompetenzen nur sehr begrenzt thematisiert. Digitale Kompetenz ist sehr wichtig und sollte insbesondere im Rahmen einer inklusiven Medienbildung in schulischen und nichtschulischen Bildungsräumen adressiert werden. Sie kann aber nicht allein die Lösung für existierende ungleiche Sichtbarkeitsstrukturen und strukturelle Diskriminierungsformen sein, die auch in den Online-Umgebungen zu Exklusion und Ungleichheiten führen.

Diversität angemessen zu berücksichtigen und damit einhergehenden gesellschaftlichen und somit auch digitalen Herausforderungen zu begegnen, sollte nicht nur die Aufgabe der Marginalisierten sein und lediglich auf der individuellen Ebene adressiert werden. Im Sinne eines breiten Verständnisses von inklusiver Bildung, durch das die Strukturen und Inhalte von Bildung diversitätssensibel und diskriminierungskritisch ausgerichtet werden, sind alle betroffen, was auch politische und strukturelle Diskussionen über Digitalisierung erforderlich macht. Letztlich ist auch in der digitalen Welt eine gleichberechtigte Teilhabe nur möglich, wenn Diversität mit sozialer Gerechtigkeit einhergeht.

Literatur

  1. Wischermann, U.; Thomas, T. (eds.) (2008). Medien – Diversität – Ungleichheit: Zur medialen Konstruktion sozialer Differenz. Springer Science & Business Media. 
  2. Helsper, E.J. (2021). The Digital Disconnect : The Social Causes and Consequences of Digital Inequalities. London: Sage. http://digital.casalini.it/9781526492975
  3. Bhandari, A. (2019). Gender inequality in mobile technology access: the role of economic and social development. Information, Communication & Society, 22(5), S. 678–694. 
  4. Watkins, S. C.; Cho, A. (2018). The digital edge. In The Digital Edge. New York University Press. 
  5. Goggin, G. (2017). Disability and digital inequalities: Rethinking digital divides with disability theory. In Theorizing digital divides (S. 63–74). Routledge. 
  6. Van Deursen, A. J.; Helsper, E. J. (2015). The third-level digital divide: Who benefits most from being online?. In Communication and information technologies annual. Emerald Group Publishing Limited. 
  7. Helsper, E. J.; Scheider, L. S.; van Deursen, A. J.; van Laar, E. (2020). The youth Digital Skills Indicator: Report on the conceptualisation and development of the ySKILLS digital skills measure. https://research.utwente.nl/en/publications/the-youth-digital-skills-indicator-report-on-the-conceptualisatio 
  8. Erigha, M.; Crooks-Allen, A. (2020). Digital communities of black girlhood: New media technologies and online discourses of empowerment. The Black Scholar, 50(4), S. 66–76. 
  9. Schradie, J. (2011). The digital production gap: The digital divide and Web 2.0 collide. Poetics, 39(2), S. 145–168. 
  10. Weinstein, M.; Jensen, M. R.; Tynes, B. M. (2021). Victimized in many ways: Online and offline bullying/harassment and perceived racial discrimination in diverse racial-ethnic minority adolescents. Cultural diversity and ethnic minority psychology, 27(3), S. 397. 
  11. Bozdağ, Ç.; Smets, K. (2017). Understanding the Images of Alan Kurdi with „Small Data“: A Qualitative, Comparative Analysis of Tweets About Refugees in Turkey and Flanders (Belgium). International Journal of Communication (SSCI), 11, S. 4046–4069. 
  12. Dancu, A. (2021, Jan. 20). The „Toeslagen Affair“: why did the Dutch government resign last week?. https://northerntimes.nl/the-toeslagen-affair-why-did-the-dutch-government-resign-last-week/  
  13. Neag, A.; Bozdağ, Ç.; Leurs, K. (2022, July 18). Media literacy education for diverse societies. In Oxford Research Encyclopedia of Communication. Oxford University Press. doi: https://doi.org/10.1093/acrefore/9780190228613.013.1268  

Zitation

Bozdağ, Ç. 2023: Kompetenzen für digitale Teilhabe in einer diversen Gesellschaft. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/diversitaet/kompetenzen-digitale-teilhabe/.

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