„Was ich like, kommt zu mir“ – Kompetenzen von Jugendlichen im Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen
Kurzbeschreibung
Die qualitative Studie betrachtet Kompetenzen von Jugendlichen im Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen (AES) in Online-Angeboten wie TikTok, Instagram und YouTube. Dabei fokussiert sie sich auf folgende Fragen: Wie eigenen sich junge Menschen algorithmische Empfehlungssysteme an? Welche Perspektiven haben sie auf diese? Und welche Kompetenzen haben sie im Umgang mit AES entwickelt? Grundlage der Studie bilden 16 leitfadengestützte Einzelinterviews und drei thematisch unterschiedliche Forschungswerkstätten mit Jugendlichen im Alter von 13 bis 19 Jahren. Themenschwerpunkte der Forschungswerkstätten waren: Aufhören fällt schwer, Profilbildung und Diskriminierung sowie Datensouveränität. Die Studienergebnisse eröffnen neue Ansatzpunkte für die Kompetenzförderung von Jugendlichen. Folgende Aspekte heben die Autor*innen mit Blick auf die Förderung von Kompetenzen hervor: Kompetenzförderung soll sich an der lebensweltlichen Nutzung von AES durch Jugendliche orientieren. Vor dem Hintergrund geteilter Handlungsmacht erscheint es zudem wichtig, die Ambiguitätstoleranz zu fördern. Denn Ambivalenzen zu erkennen und wahrzunehmen, kann einen kompetenten Umgang mit AES unterstützen. Auch die Förderung von Selbstregulationsfähigkeit ist wichtig - jedoch stets in Kombination mit der Reflexion eigener Ansprüche an Selbstkontrolle.
Annahmen über die Folgen der Digitalisierung
Algorithmische Empfehlungssysteme (AES) spielen im Alltag von Jugendlichen eine wichtige Rolle. Sie können "als dynamische, komplexe und intransparente Phänomene beschrieben werden, aus welchen digitale Umwelten emergieren, die sich durch das permanente Online-Sein, die damit einhergehende potenzielle Monetarisierung aller Lebensäußerungen, die Überwachung durch Unternehmen (und potenziell durch Geheimdienste oder Strafverfolgungsbehörden) sowie die darin immanenteWettbewerbslogik charakterisieren lassen" (S. 15). In Hinblick auf AES ergeben sich verschiedene Herausforderungen. Erstens sind mit der Nutzung von AES Gefährdungen der Datensouveränität verbunden, da solche Systeme Nutzer*innendaten verwenden, um etwa Profile der Nutzer*innen zu erstellen. Diese Praxis berührt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zweitens werden AES häufig in Zusammenhang mit Filterblasen gebracht, das heißt, dass sie die Tendenz von Menschen unterstützen, Informationen zu glauben, die ihren Überzeugungen entsprechen. Drittens können AES zu Diskriminierung beitragen, beispielsweise, wenn Inhalte zu bestimmten Themen systematisch blockiert werden. Eine vierte Herausforderung ergibt sich bei der Empfehlung von Inhalten, die aus Sicht des Kinder- und Jugendmedienschutzes problematisch sein können (beispielsweise extremistische Inhalte). Dazu können durch AES immer wieder ähnliche Inhalte vorgeschlagen werden. Fünftens trägt die Darbietungsform von Angeboten mit AES dazu bei, dass einem das Aufhören schwerfällt. Die Selbstkontorllfähigkeit von Jugendlichen wird dadurch stark herausgefordert. Neben datenschutzrelevanten Themen, werden auch Fragenstellung in Bezug auf Transparenz, Teilhabe, Selbst- und Fremdbestimmung sowie Chancengleichheit und Solidarität virulent.
Kompetenzanforderungen
Kompetenzanforderungen ergeben sich in einem Zusammenspiel der Beschaffenheit und Funktionsweise von digitalen Angeboten, lebensweltlichen Bedingungen der Kompetenzträger*innen, deren Motiven, digitale Medien zu nutzen, sowie kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Autor*innen beschreiben auf Basis des aktuellen Forschungsstands zunächst im Diskurs präsente Kompetenzanforderungen. So erfordert der Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen (AES) Wissen und Reflexion von Anwendungen Künstlicher Intelligenz, deren Funktionsweise sowie ihrem wechselseitigen Verhältnis zum persönlichen Medienhandeln. Programmierkenntnisse können für das Verstehen solcher Anwendungen hilfreich sein. Zudem kommt Emotionen (beispielsweise als Reflexionsanlass) eine Bedeutung zu. Im bisherigen Diskurs zu AES kaum präsent sind demgegenüber soziale und kreative Dimensionen von Kompetenz. Die Ergebnissen der Studie verweisen auf folgende Kompetenzanforderungen in Hinblick auf AES: Jugendliche handeln bei Angeboten mit AES in einem Kontext geteilter Handlungsmacht. Angesichts dessen müssen sie die eigene Handlungsmacht sowie die anderer Nutzer*innen einordnen. Zentral erscheint beispielsweise das Ausloten eigener Handlungsmöglichkeiten und Einschätzen der Tragweite eigenen Handelns. Auch gilt es, mit der Ambivalenz umzugehen, dass Jugendliche einerseits das AES als positiv wahrnehmen, zugleich aber problematisieren, dass es dazu beiträgt, dass sie mehr Zeit als gewollt in Angeboten mit AES verbringen. Weitere Anforderungen bestehen darin, sich im Dilemma von Nicht-Nutzung versus Aufgabe einer (vollständigen) Datensouveränität zu positionieren und einen möglichst selbstbestimmten Umgang mit den eigenen Daten zu finden - im Abgleich zur eigenen Position sowie Nutzungsmotiven. Eine letzte Anforderung besteht darin, sich selbst als Teil des AES wahrzunehmen.
Kompetenzdimensionen
Instrumentell-qualifikatorische Dimension: Empfehlungen mit eigenem Handeln bewusst beeinflussen können; Datenschutzeinstellungen bedienen können.
Kognitive Dimension: Wissen über die Datenbasis und Funktionsweise von algorithmischen Empfehlungssystemen; Folgen der automatischen Personalisierung von Inhalten verstehen.
Affektive Dimension: Umgang mit Gefühlen, wie Grusel, Ärger oder Ohnmacht; Emotionen wahrnehmen und als Ausgangspunkt von Reflexionsprozessen erkennen können.
Kreative Dimension: sich durch einen explorativen Umgang die Möglichkeiten zur Mitgestaltung der inhaltlichen Empfehlungen erschließen können.
Soziale Dimension: soziale Verwobenheit der eigene Handlungen einschätzen und reflektieren können.
Kritisch-reflexive Dimension: ständige Analyse des Medienhandelns durch AES erkennen und bewerten; algorithmische Entscheidungen kritisch bewerten können; algorithmische Vorgänge und deren Ergebnisse einordnen können.
Zentrale theoretische Annahmen über Kompetenz
Kompetenzen werden als Fähigkeiten und Fertigkeiten beschrieben, die Subjekten, unter Rückgriff auf Wissensbestände und Erfahrungen sowie deren Reflexion, eine Orientierung im Handeln und das Umsetzen von Handlungen erlauben, mit denen die Subjekte an sich (selbst) gestellte Anforderungen selbstbestimmt und verantwortungsvoll bewältigen können. In Anlehnung an Schorb und Wagner (2013) definieren die Autor*innen Medienkompetenz als „'Befähigung zur souveränen Lebensführung in einer mediatisierten Gesellschaft', um am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu partizipieren und es aktiv mitgestalten zu können" (S. 45).
Perspektive der Kompetenzträger*innen auf Kompetenz einbezogen?
Der Perspektive der Kompetenzträger*innen wurde durch Einzelinterviews sowie Forschungswerkstätten eingebunden.
Lebenskontexte der Kompetenzträger*innen einbezogen?
Dem Forschungsansatz des Kontextuellen Verstehens der Medienaneignung folgend wurden mediale und soziale Nutzungskontexte sowie persönliche Hintergründe der Befragten erhoben und ausgewertet. In der Studie sollte ein möglichst breites Spektrum an personalen Ressourcen und Lebenswelten Berücksichtigung finden. Daher wurde bei der Akquise systematisch darauf geachtet, Jugendliche verschiedenen Geschlechts, mit unterschiedlichen formalen Bildungshintergründen sowie mit und ohne Migrationsgeschichte einzubeziehen.
Herausforderungen der Erfassung von Kompetenz
keine Angabe
Zentrale empirische Befunde über Kompetenz
Ein Großteil der Befragten weiß, dass Angebote mit algorithmischen Empfehlungssystemen (AES) auf Basis von Daten zum Nutzungsverhalten arbeiten. Typischerweise erwähnt werden etwa Likes und andere Reaktionen auf Inhalte. Wie genau AES funktionieren, davon haben alle befragten Jugendlichen nur eher vage Vorstellungen. Konkretere Vorstellungen beziehen sich auf AES als ein rechnendes System oder Programm. Die meisten Jugendlichen haben zudem eine eher vage und unvollständige Vorstellung davon, auf welche Datenbasis ein AES zugreift. Einge wenige scheinen eine umfangreichere Vorstellung davon zu haben. Als Ziel identifizieren die meisten Jugendlichen das Vorschlagen passender Inhalte (und dadurch auch die Verlängerung der Nutzungsdauer als ein unternehmerisches Motiv). Ihr Wissen basiert vor allem auf eigenen Erfahrungen mit Anwendungen mit AES. Vor allem in explorativem Handeln eignen sich die befragten Jugendlichen instrumentelle Fähigkeiten sowie Wissen über Datenbasis und Funktionsweise von AES an. Andere Quellen scheinen hingegen eine eher untergeordnete Rolle zu spielen (beispielsweise formale Bildungskontexte oder mediale Informationsangebote). Diskrimierenden und jugendschutzrelevanten Inhalten stehen die befragten Jugendlichen meistens kritisch gegenüber und analysieren und reflektieren in gewissem Maß auch die Rolle von Unternehmen in diesem Bezug. Schwieriger scheint es für die Befragten zu sein, das eigene Handeln im Zusammenspiel des Handelns anderer sowie des AES einzuordnen. Während Alter und formaler Bildungshintergrund keinen Einfluss auf die Differnziertheit der Gegenstandsauffassung sowie der Einschätzung der eigenen Handlungsmacht haben, zeigt sich, dass Mädchen und Frauen sich in Bezug auf AES weniger handlungsmächtig einschätzen.
Quellenangabe
Schober, M., Lauber, A., Bruch, L., Herrmann, S., & Brüggen, N. (2022). „Was ich like, kommt zu mir“. Kompetenzen von Jugendlichen im Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen. Qualitative Studie im Rahmen von „Digitales Deutschland“. kopaed. https://doi.org/10.5281/zenodo.7437430
Sonstige Anmerkungen
Um Jugendlichen ein souveränes Medienhandeln zu ermöglichen, ist Medienkompetenzförderung allein nicht ausreichend. Gleichzeitig gilt es, Konzepte zu entwickeln und zu implementieren, wie algorithmische Empfehlungssysteme kompetenzförderlich gestaltet werden können.