Medienkompetenzen von Menschen mit Migrationsgeschichte
Laura Sūna (Universität Siegen)
Veröffentlicht am 28.12.2022
Menschen mit Migrationsgeschichte werden oft in Mediennutzungs- und Kompetenzstudien außer Acht gelassen, werden jedoch in der medienpädagogischen Arbeit gleichwohl adressiert. Wer sind überhaupt Menschen mit Migrationsgeschichte? Was wissen wir aus empirischen Studien über ihre medienbezogenen Kompetenzen und warum sollten wir uns dafür interessieren? Diesen Fragen geht die aktuelle Fokus-Auswertung der Universität Siegen nach.
Warum ist es wichtig, Menschen mit Migrationsgeschichte als Zielgruppe zu wählen?
Menschen mit Migrationsgeschichte umfassten 2020 ca. ein Drittel der deutschen Bevölkerung (Statistisches Bundesamt, 2022 [1] ). Somit stellt für einen großen Teil der Bevölkerung Migrationsgeschichte einen relevanten Lebenskontext dar, der möglicherweise auch Bedeutung für die Entwicklung von Medienkompetenz hat. Jedoch ist diese Gruppe, die wir im Weiteren näher definieren werden, in Studien zu Medienkompetenz eher unterrepräsentiert. Auch in repräsentativen Umfragen zur Mediennutzung sind sie meistens nicht ausreichend vertreten – mit Ausnahme einiger, etwas älterer Studien wie die ARD/ZDF Studie „Medien und Migranten“ (Simon 2007; Simon & Neuwöhner 2011), die (N)Onliner Studie der Initiative D21 (2008) oder die aktuelle Studie des Sachverständigenrates Migration (Tonassi & Wittlif, 2021). Gründe dafür sind unter anderem die Umsetzbarkeit, beispielsweise aufgrund von Sprachbarrieren, sowie eine schwierige Erreichbarkeit eines migrantischen Samples für repräsentative Umfragen (El-Menouar, 2022, S. 1217-1218). Gleichzeitig argumentieren Leurs und Kolleg*innen (2018, S. 446), dass auch internationale Studien zu Medienkompetenz vorwiegend die Mehrheitsgesellschaft fokussieren und Gruppen, die man als gesellschaftliche „Randgruppen“ bezeichnen kann, eher außer Acht lassen. Auch in der Datenbank des Monitorings Digitales Deutschland spiegelt sich dieser Umstand wider – zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags im Dezember 2022 konnten nur drei Studien ermittelt werden, die das Thema Migration zumindest erwähnen (siehe Schmidt-Hertha et al., 2020; Bos et al., 2014; Eickelmann et al., 2019).
Gleichzeitig sprechen kommunikationswissenschaftliche Studien von Integrations- bzw. Segregationspotenzialen digitaler Medien für Migrant*innen [2] (vgl. Weiß & Trebbe, 2001; Trebbe, 2007). Dabei wird einem Teil der Migrant*innen normativ digitale Abschottung unterstellt, sie würden in digitale Parallelwelten ihrer Herkunftsländer flüchten. Diese allgemeine These widerlegen jedoch Studien, die auf die Vorteile transkultureller Mediennutzung, wie den Zugang zu vielfältigen Medienräumen, verweisen (Hepp et al., 2011; Tonassi & Wittlif, 2021). Darüber hinaus werden Migrant*innen als „mediale Migranten“ (Hepp et al., 2011) oder als „digital diaspora“ (Bernal, 2014) beschrieben. Ähnlich wie bei der Gruppe der vermeintlichen ‚digital natives‘ wird insgesamt von einer vielfältigen Durchdringung der Alltagswelt durch digitale Medien und einem hohen Medienkompetenzniveau der Migrant*innen ausgegangen. Es fehlt jedoch an einer empirischen Basis für diese Zuschreibung. Studien wie beispielsweise von Tonassi und Wittlif (2021, S. 4-5) zeigen zwar, dass Migrant*innen in Deutschland insgesamt sehr medienaffin sind – auch beispielsweise in der Alterskohorte über 65 Jahren. Nichtsdestotrotz ist diese Gesellschaftsgruppe in sich sehr heterogen und es ist zu vermuten, dass ihre medienbezogenen Kompetenzen unterschiedlich ausgeprägt sind, wie das auch eine Studie im Rahmen des Projekts Digitales Deutschland aufgezeigt hat (Pfaff-Rüdiger et al., 2022). Gerade deswegen bleibt die Frage spannend, wie Migrant*innen den Herausforderungen des digitalen Wandels begegnen und diese meistern. Wir gehen davon aus, dass ein selbstbestimmter Umgang mit digitalen Medien ebenfalls die gesellschaftliche Partizipation in unterschiedlichen Lebensbereichen fördert. Somit plädieren wir für ein stärkeres Einbeziehen der Aspekte der Migrationsgeschichte in die Erforschung von Medienkompetenz.
Definitionsversuche: Menschen mit Migrationsgeschichte
Ein Grund dafür, dass selten zu Menschen mit Migrationsgeschichte geforscht wird, ist sicherlich auch die Schwierigkeit, diese Gruppe zu definieren. Gehören Menschen, die selbst nicht migriert sind, zu dieser Gruppe? Inwiefern spielt der Besitz einer ausländischen Staatsangehörigkeit eine Rolle? Wie verhält es sich bei den eingebürgerten Bürger*innen oder Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit? Diverse Studien betonen, dass die Verwendung unterschiedlicher Begriffe, die die Ethnizität und Herkunft von Menschen beschreiben, mit Zuschreibungen und Abgrenzungen einhergehen und zur Stereotypisierung und Diskriminierung beitragen kann (Siouti et al., 2022). Dies gilt es in wissenschaftlichen Studien zu vermeiden. Im Weiteren werden einige Definitionsversuche dargestellt.
Das Statistische Bundesamt ermittelt seit 2005 den Migrationsstatus der Bevölkerung. Dabei wurde die Definition der Menschen mit einem Migrationshintergrund immer wieder angepasst [3] . Aktuell weist eine Person einen Migrationshintergrund auf, „wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt“. (Statistisches Bundesamt, 2022). Somit werden Menschen der ersten und zweiten Migrationsgeneration in den Erhebungen erfasst. Jedoch wird dabei kritisiert, dass Menschen, die sich vorher zur deutschen Gesellschaft zugehörig gefühlt haben, durch diese Zuschreibung des Migrationshintergrunds ausgegrenzt werden (Will, 2022, S. 5). Es bestehen immer wieder Bemühungen, alternative Begriffe zu etablieren, wie beispielsweise den Begriff ‚Menschen mit Migrationsgeschichte‘ oder ‚Eingewanderte und ihre Nachkommen‘. Jedoch wird eher ein Umdenken als eine Neubezeichnung des Phänomens gefordert. Bisher assoziieren die Begriffe mit dieser Gesellschaftsgruppe eher ‚Defizite‘, ‚Probleme‘, ‚Herausforderungen‘ und ein Anders- oder Fremdsein. Will (2022, S. 5-6) schlägt dementsprechend vor, sich in der Migrationsforschung eher auf Selbstauskünfte zu konzentrieren und somit die Erhebung positiver Selbstbezeichnungen und sogenannter selbstwahrgenommenen Fremdzuschreibungen zu fördern. Auch internationale Migrationsstudien betonen die Bedeutung von Selbstzuschreibung bei der Analyse der Menschen mit Migrationsgeschichte. So verwenden beispielsweise Jaramillo-Dent et al. (2022, S. 1) den englischen Begriff „immigrant“ anstatt „migrant“, was auf der Selbstauskunft der latinostämmigen Content Creators auf Tiktok in den USA als „foreigners living abroad” basiert.
Aus unserer Sicht ist es sinnvoll, den lebensweltlichen Kontext der Menschen dort abzudecken, wo er als sinnstiftend von ihnen erachtet wird. Daher kann die Erfassung von Migrationsgeschichte bei der Erforschung von medienbezogener Kompetenz begrüßenswert erscheinen. Wie in der Studie des Verbunds Digitales Deutschland (Pfaff-Rüdiger et al., 2022) bisher erfolgt, kann die Herkunft der Befragten und deren Eltern ermittelt werden. Probleme bei der Bestimmung des Herkunftslandes entstehen jedoch, wenn die Eltern aus zwei unterschiedlichen Ländern stammen. Ergänzend dazu sind Fragen nach der Selbstbeschreibung in Bezug auf die Herkunft der Befragten denkbar – dies tun beispielsweise bereits die polnischen und britischen amtlichen Statistiken (Spuik, 2017, S. 6). Insgesamt ist bei der Auswertung Vorsicht geboten, nicht diverse Zuschreibungen und Stereotype zu reproduzieren, beispielsweise, wenn man Menschen der zweiten Generation automatisch eine migrantische Identität zuschreibt.
Im Weiteren sollen exemplarische Ergebnisse über die Mediennutzung und Medienkompetenz der Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland vorgestellt werden. Dabei beschreiben wir sie in ihrer Pluralität und zeigen mögliche Forschungslücken auf. Gerade weil diese Gruppe einen signifikanten Teil der deutschen Gesellschaft ausmacht und in vielen Studien außer Acht gelassen wird, benötigen wir belastbare Daten darüber, welchen Herausforderungen sie im Kontext der Digitalisierung begegnen und welche Lösungsansätze sie haben oder dabei möglich sind.
Mediennutzung und Medienkompetenz von Migrant*innen in Deutschland
Bisherige Studien zur Mediennutzung von Migrant*innen in Deutschland adressieren vorwiegend Menschen im Erwerbsalter sowie Jugendliche (Trebbe et al., 2010). Ältere Menschen waren bisher nur vereinzelt die Zielgruppe von empirischen Mediennutzungsstudien (Paasch-Colberg & Trebbe, 2017). Zudem konzentrieren sich die meisten Studien auf die in den 2000er Jahren in Deutschland vertretenen größten Migrationsgruppen der Türkeistämmigen, der Aussiedler*innen, der Italienischen und der Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien (Simon 2007; Simon & Neuwöhner 2011; Geißler & Pöttker, 2005; Sauer, 2009). Nach den Fluchtwellen 2005 und 2022 hat sich jedoch die Struktur der Migrant*innengruppen in Deutschland geändert und die Ergebnisse dieser Studien sind somit nur bedingt auf die aktuelle Gesellschaft übertragbar. Ähnlich hat sich seitdem auch die Medienlandschaft durch die steigende Popularität unterschiedlicher Social Media-Dienste, Streamingplattformen oder algorithmenbasierter Nachrichtenangebote verändert.
Aktuellere Daten über die Mediennutzung von Menschen mit Migrationsgeschichte liefert die Studie des SVR-Integrationsbarometers 2020 (Tonassi & Wittlif, 2021). Diese Studie befragte sowohl Menschen mit als auch ohne Migrationshintergrund und verglich die Ergebnisse zwischen diesen zwei Bevölkerungsgruppen. Neben Menschen mit Migrationsgeschichte der ersten und zweiten Generation berücksichtigt die Studie zudem Menschen, die durch die Fluchtbewegung nach 2015 eingewandert sind [4] . Insgesamt stellt die Studie fest, dass in Deutschland lebende Mediennutzer*innen mit Migrationsgeschichte Medien (sowohl (online-)Massenmedien als auch soziale Medien) überwiegend in deutscher Sprache konsumieren. Besonders charakteristisch sei dies bei den jüngeren Befragten. Eine Ausnahme stellen die türkeistämmigen Befragten dar, die gleichermaßen deutschsprachige und herkunftssprachige Angebote des (Online-)Fernsehens nutzen (Tonassi & Wittlif, 2021, S. 5). Unterschiede zur deutschen Bevölkerung fand die Studie jedoch bei der Nutzung von sozialen Medien. Befragte mit Migrationshintergrund geben öfter als Befragte ohne Migrationshintergrund an, soziale Medien häufig zu nutzen. Besonders groß ist diese Kluft in der Alterskohorte +65 Jahre: Lediglich rund 23 Prozent der Befragten dieser Altersgruppe ohne Migrationshintergrund konsumieren häufig soziale Medien; bei den Befragten mit Migrationshintergrund sind es rund 35 Prozent (Tonassi & Wittlif 2021, S. 4-5). Frühere Studien zeigten, dass migrantische ältere Frauen seltener das Internet genutzt haben. Spannend wäre zu ermitteln, ob das immer noch der Fall ist (vgl. Worbs, 2010, S. 35). Die intensive Nutzung von Social Media ist mit dem Bedürfnis der Pflege transnationaler Netzwerke zu erklären, was über diverse translokale (wie Facebook), aber auch lokale Social Media Plattformen (wie VK.ru oder Vaybee.de) möglich ist.
Was die Mediennutzung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund anbetrifft, zeigt die Studie von Trebbe et al. (2010), dass diese sich kaum von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund unterscheidet (siehe auch Heft et al., 2010). Sie haben in ihrer Studie Jugendliche der türkischen Diaspora und Spätaussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland befragt. Die Autor*innen stellen fest, dass der Aspekt des Migrationshintergrunds als Erklärung des Mediennutzungsverhaltens oft wenig relevant und eher als komplementär zu anderen Erklärvariablen zu sehen sei (vgl. auch Worbs, 2010, S. 45). Theunert (2007, S. 5) argumentiert ähnlich, dass innerhalb unterschiedlicher Bildungsmilieus der Migrationshintergrund zusätzliche und je nach Herkunftskultur jeweils spezifische Akzente bei der Medienaneignung setzen kann. Auch Bos et al. (2014, S. 298) betonen die Notwendigkeit, Aspekte der sozialen Herkunft und der Migrationsgeschichte in Medienkompetenzstudien differenziert zu betrachten. Dies geht mit der Forschung zum digital divide einher, die digitale Ungleichheit der Gesellschaft mit struktureller Ungleichheit zusammendenkt (Van Deursen & Helsper, 2015; Lutz, 2019). Einige Studien argumentieren, dass die Mediennutzung stärker von soziodemografischen Faktoren als von der ethnischen Zugehörigkeit bestimmt wird (Pohlschmidt, 2008, S. 12). Worbs (2010) betont, dass sich in der Gruppe der Menschen mit Migrationsgeschichte das Alter, der Bildungsabschluss und das Einkommen in ähnlicher Weise auf die Nutzung auswirkt wie bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, wie aus der Studie der Initiative D21 sichtbar sei (2008). Es besteht ein großes Gefälle zwischen den Schul- und Bildungsabschlüssen deutscher Jugendlicher und Jugendlicher mit Migrationshintergrund und dadurch liegt tendenziell eine Benachteiligung dieser Kinder und Jugendlichen vor (Pohlschmidt 2008, S. 16). So zeigt die Studie ICILS zur auf digitale Medien bezogenen Kompetenz von Schüler*innen Unterschiede zwischen migrantischen und nicht-migrantischen Jugendlichen, wobei die ersteren niedrigere Werte bei der Messung von Computer- und Informationskompetenz aufweisen. Dies wird ebenfalls mit Aspekten des Bildungsmilieus erklärt (Eickelmann et al., 2019). Ähnlich stellen auch Schmidt-Hertha et al. (2020, S. 324) in ihrer Medienkompetenzstudie über Lehrende im Erwachsenenalter fest, dass es notwendig ist, neben geschlechts- und generationenspezifischen Aspekten ebenfalls kulturellen Rahmungen wie den Migrationshintergrund zu erfassen. Ihre Analysen haben einen Zusammenhang zwischen mediendidaktischer Kompetenz und Migrationshintergrund gefunden, was die Autor*innen der Studie auf eine mögliche fehlende Fachsprachenkompetenz der Lehrkräfte, die nicht in Deutschland geboren sind, zurückführen. Worbs (2010, S. 50) stellt zusammenfassend fest, dass Medien nicht eindeutig zur Integration oder Segregation beitragen würden, weil die herkunftssprachlichen Angebote andere lebensweltliche Aspekte abdecken als deutschsprachige Medien und auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen und diese sich somit nicht gegenseitig ausschließen, wie in den theoretischen Integrationsmodellen oft angenommen (Esser, 2000). Dies wird bestätigt durch die Befunde der Sinus Milieustudie von 2009. In der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund (ebenso wie in der deutschen Bevölkerung) gibt es eine bemerkenswerte Vielfalt von Lebensauffassungen und Lebensweisen (Wippermann & Flaig, 2009).
Ein weiterer Strang der vorwiegend qualitativen Migrationsforschung im Kontext von Medien ist die Analyse der Rolle diverser Medien für die Identitätsentwicklung und -artikulation von Migrant*innen. Dabei werden kreative Fähigkeiten der Menschen mit Migrationsgeschichte artikuliert, wenn sie ein Medienrepertoire aus multilingualen Medienräumen gestalten oder durch translokale kommunikative Vernetzung Identitätsarbeit leisten (vgl. Hugger, 2009; Hepp et al., 2011; Bozdağ, 2013; siehe auch Sūna, 2021). Es werden ebenfalls Wertorientierungen und Einstellungen gegenüber Mediensystemen und Medieninhalten verhandelt, die zur kritisch-reflexiven Bewertung der Medieninhalte beitragen, wie das die aktuelle Studie von Ryzhova (2022) über die russische Diaspora in Deutschland exemplarisch aufzeigt.
Die SVR-Studie hat neben der Mediennutzung auch das Vertrauen in Medien erforscht, welches sich ebenfalls auf Einstellungen und Wertorientierungen stützt. Die Ergebnisse verweisen auf eine Differenzierung des Vertrauens und der Bewertung deutscher und Herkunftsmedien. Tonassi und Wittlif (2021, S. 5) stellen fest, dass das Vertrauen in deutsche Medien im Integrationsbarometer 2020 bei Personen mit Migrationshintergrund im Vergleich zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund insgesamt hoch ausfällt. Dieses ist zugleich höher als das Vertrauen in die jeweiligen Herkunftslandmedien. Türkeistämmige Befragte sind insgesamt Medien gegenüber kritischer. Auch die deutschen Medien bewerten sie kritischer als andere befragte Migrant*innengruppen. Die Autoren der Studie erklären dies mit der starken Nutzung von Social Media in der türkeistämmigen Diaspora. Zudem verdeutlicht eine Befragung von Geflüchteten in Deutschland, dass Menschen, die aus autoritär geprägten Ländern wie dem Iran geflüchtet sind, eher weniger Medien vertrauen würden (Richter et al., 2018, S. 308). Insgesamt ist das Vertrauen sowohl der deutschen als auch der migrantischen Bevölkerung in deutsche Medien in den letzten Jahren gestiegen. Tonassi und Wittlif erklären dies mit der informationsweisenden Rolle von Medien in Krisenzeiten wie der Coronapandemie (2021, S. 5).
Kontinuierliche Medienkompetenzstudien der Menschen mit Migrationsgeschichte notwendig
Der Forschungsüberblick attestiert einerseits einen Mangel an belastbaren Informationen über die Mediennutzung und Medienkompetenz der Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland. Anderseits mahnt der Bericht an, diese Bevölkerungsgruppe reflektiert und intersektional empirisch zu erforschen und zu analysieren. Ein intersektionaler Blick auf diese sehr diverse Gruppe ist wichtig, um herauszufinden, inwiefern unterschiedliche soziodemografische Aspekte für die Kompetenzentwicklung prägend sind. Es ist somit wichtig, dass Forschungs- und Praxiszugänge zum Medienhandeln von Menschen mit Migrationsgeschichte nicht separiert, sondern sie in milieuspezifische Zugänge integriert werden. Innerhalb der Milieus lassen sich jeweils spezifische Formen des Medienhandelns unterschiedlicher Gruppen von Migrant*innen erfassen und in ihrer Differenz zum Medienhandeln der jeweiligen deutschen Population bewerten (Theunert 2007, S. 5). Mit Theunert (2007, S. 17) plädieren wir dafür, auf eine Defizitperspektive auf Menschen mit Migrationshintergrund zu verzichten und somit Verallgemeinerungen in Bezug auf einzelne Kulturkreise und Nationalitäten nicht zuzulassen. Dabei sollen beispielsweise Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund – wie Braun und Hugger (2022, S. 609) betonen – „nicht mehr als in erster Linie gefährdete und konfliktbehaftete Wesen angesehen, sondern als aktiv realitätsverarbeitende Subjekte, die in der Lage sind, ihrer symbolischen Umwelt interpretierend und sinngebend gegenüber zu treten“.
Auch wenn in der Medienkompetenzforschung die Gruppe der Menschen mit Migrationsgeschichte weitestgehend außer Acht gelassen wird, werden in Deutschland seit Mitte der 2000er Jahre zahlreiche medienpädagogische Projekte realisiert, die sich bemühen, die sozial benachteiligten Jugendlichen mit Migrationsgeschichte in ihrer Mediennutzung zu ermächtigen sowie die (Weiter-)entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten eines kompetenten Medienumgangs zu unterstützen. Diese Projekte sind auf das Potenzial gesellschaftlicher Partizipation durch Praktiken der Medienaneignung und Medienkompetenzentwicklung ausgerichtet (vgl. Pohlschmidt, 2008; Theunert, 2007; Niesyto, 2006; Holzwarth, 2007). Medienpädagogische Arbeit steht permanent vor der Herausforderung, Migrant*innen so anzusprechen, ohne sie von der Mehrheitsgesellschaft zu separieren und damit (positiv) zu diskriminieren. Braun und Hugger verweisen auf die Notwendigkeit, dabei die Gesamtgesellschaft in ihrer Vielfalt in den Blick zu nehmen (Braun & Hugger, 2022, S. 614).
Auch wenn die beschriebenen Projekte als Maßnahmen interkultureller Medienpädagogik und aktiver Medienarbeit vielfach realisiert werden, fehlt bisher eine umfassende Integration dieser Herangehensweise in den theoretischen Kompetenzmodellen. So geht beispielsweise das Rahmenkonzept Digitales Deutschland von einer Pluralität des Subjekts aus. Bedeutsam wäre jedoch, Migrationsprozesse als einen Aspekt des gesellschaftlichen Wandels hin zu einer postmigrantischen Gesellschaft mitzudenken (Foroutan, 2015). Dabei sollte man Migration als ein die heutige Gesellschaft veränderndes Phänomen betrachten.
Die Medienlandschaft sowie die Gesellschaft unterliegen einem fortlaufenden Wandel, weshalb in Zukunft eine kontinuierliche Erhebung ausreichend differenzierter Daten rund um die Mediennutzung auch von Zugewanderten und ihren Nachkommen von großer Bedeutung ist.
Fußnoten
- Umfassende Informationen des statistischen Bundesamtes zum Thema Migration siehe: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/_inhalt.html↩
- Angelehnt an die wissenschaftliche Tradition der Migrationsforschung werden hier die Begriffe „Menschen mit Migrationsgeschichte“ und „Migrant*innen“ synonym verwendet. Auf die gesellschaftliche Diskussion darüber wird im weiteren verwiesen.↩
- Zur Geschichte des Begriffs siehe den Beitrag von Will „Migrationshintergrund“: https://www.migrationsbegriffe.de/migrationshintergrund↩
- Zum Methodenbericht der Studie: https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2021/06/SVR_IB2020_Methodenbericht.pdf↩
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Die Autorin
Dr. Laura Sūna ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: auf digitale Medien und KI-bezogene Kompetenzen, migrantische Medienaneignung, Imaginationen und Mediendiskurse über Künstliche Intelligenz, Vergemeinschaftungen, Emotionen und Affekte sowie Jugendkulturen.
Zitation
Sūna, L. 2022: Medienkompetenzen von Menschen mit Migrationsgeschichte. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/fokus-auswertung-zu-medienkompetenzen-von-menschen-mit-migrationsgeschichte.