EDITORIAL

Digitales Deutschland

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Digitales Deutschland

Medien- und Digitalkompetenzen unterscheiden sich grundsätzlich von Lese- und Schreibkompetenzen. Während sich die Regeln bei Letzteren nur bei einem Sprachwechsel ändern, ist dies bei digitalen Diensten oder Technologien fortwährend möglich. Während Lese- und Schreibkompetenzen in der Regel in einem bestimmten Alter erworben werden und darauf (relativ) gesichert zurückgegriffen werden kann, erfordert der beschleunigte technologische Wandel eine stetige Auseinandersetzung mit digitalen Anwendungen, Nutzungsbestimmungen, Datenmanagement sowie Algorithmen und nicht zuletzt den Möglichkeiten und Risiken von Künstlicher Intelligenz (KI). Für eine souveräne Lebensführung und ein partizipatives Navigieren in und durch digitale Welten bedarf es entsprechender Kompetenzen, die beständig zu erweitern sind. Welche besonderen Anforderungen und Bedarfslagen stellen sich damit in unterschiedlichen Lebensaltern und Lebenslagen?

Diese Frage stand im Mittelpunkt des (im Jahr 2020 gestarteten vierten Moduls) des Forschungsverbundprojekts „Digitales Deutschland | Monitoring zur Digitalkompetenz der Bevölkerung“. Ziel des Projekts war es, die Medien- und Digitalkompetenzen der Bevölkerung zu erfassen und daraus die konkreten Bedarfe in Bezug auf spezifische Kompetenzförderungen abzuleiten. Die analytische Grundlage bildete ein Rahmenkonzept, das in den vorhergehenden Modulen in Auseinandersetzung mit aktuellen Kompetenzmodellen und Studienergebnisse zu Medien- und Digitalkompetenzen entwickelt wurde. Im Modell werden sowohl die Mehrdimensionalität und Komplexität von Kompetenzen und Kompetenzanforderungen verschiedener Bevölkerungsgruppen als auch die Gelingensbedingungen des Kompetenzerwerbs systematisch berücksichtigt. Insgesamt fußt die Arbeit im Projekt auf der Annahme, dass das Handeln mit Medien und digitalen Systemen nicht kontextlos, sondern nur in der Wechselwirkung zwischen Mensch, Medien und Gesellschaft zu verstehen ist.

Das Projekt beinhaltet verschiedene Bausteine und wurde an drei Standorten (Ludwigsburg, München und Siegen) realisiert. Die Arbeit der Verbundpartner*innen umfasste die Erstellung einer umfangreichen Datenbank, in der alle wesentlichen Konzepte und Studien zur Erforschung von Digital- und Medienkompetenzen dokumentiert sind. Zudem wurden in den Jahren 2021 und 2023 telefongestützte Repräsentativbefragungen u. a. zu den Themen Wissen, Umgang und Vorstellungen über Künstliche Intelligenz sowie vorhandene und als notwendig erachtete Kompetenzen durchgeführt. Aufbauend auf den Ergebnissen der Befragungen und sich ergebender Erkenntnislücken wurden komplementär qualitative Studien initiiert. Diese untersuchen den Umgang verschiedener Bevölkerungsgruppen (Kinder/Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen) mit digitalen Medientechnologien und insbesondere KI. Ziel ist es, jeweils zielgruppenspezifisch Erfahrungen zu erfassen und Kompetenzbedarfe zu identifizieren. Als Kernergebnis der quantitativen Studien lässt sich festhalten, dass sich der Kenntnisstand und die selbst eingeschätzten Kompetenzen in Bezug auf Künstliche Intelligenz in der Bevölkerung deutlich unterscheiden. Wer im Alltag mit KI-Anwendungen (inter-)agiert, traut sich im Umgang mit ihnen mehr zu. Tendenziell ist die Bevölkerung Deutschlands neuen Medientechnologien gegenüber aufgeschlossen, gleichwohl wünscht sie sich zuweilen für sich selbst (betrifft vor allem ältere Menschen) oder auch allgemein für die Gesellschaft mehr Unterstützung und begleitende Angebote der Medienbildung.

Die beiden Studien des JFF am Standort München fokussierten auf den Umgang von Jugendlichen (Teilstudie 1) und Kindern (Teilstudie 2) mit KI-Technologien. Zum Medienumgang dieser Altersgruppe ist der Studienkorpus umfassend, aber die Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen von KI und ihre Erfahrungen damit waren bislang nicht erforscht. Am Beispiel algorithmischer Empfehlungssysteme ist das Münchner Team den genannten Fragen nachgegangen. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen beim Verständnis von KI und in den Umgangsweisen damit. Da Kinder häufiger als Jugendliche nicht über eigene Geräte auf die Dienste zugreifen, ist für sie die Bedeutung des eigenen Handelns für die Personalisierung von Inhalten weniger erkennbar. Jugendliche hingegen berichten davon, dass sie ihren Algorithmus „erziehen“ würden – durch bewusste Interaktionen mit Inhalten versuchen sie zu steuern, was ihnen häufiger oder nicht mehr angezeigt werden soll. Dabei explorieren sie die Möglichkeiten der Apps. Zugleich beschreiben es auch eher die Jugendlichen als gruselig, wenn sie Inhalte eingespielt bekommen, bei denen für sie nicht ersichtlich ist, weshalb diese für sie ausgewählt wurden. Beispiele sind, wenn scheinbar Geodaten oder Inhalte aus einem face-to-face geführten Gespräch erfasst wurden. An verschiedenen Stellen stoßen Kinder und Jugendliche auf Herausforderungen, die ihnen durch die Empfehlungssysteme gestellt werden: zum Beispiel sich zeitliche Grenzen zu setzen oder auch der Umgang mit unerwünschten Inhalten.

Am Standort Siegen konnten zwei vertiefende Studien durchgeführt werden. Die erste interessierte sich für den Mediendiskurs und die öffentliche Meinung zu KI. Im Zentrum der Analyse standen Nutzer*innen-Kommentare, die auf Online-Nachrichtenportalen bzw. zu Beiträgen über KI in sozialen Medien hinterlassen wurden und die den öffentlichen Diskurs über KI sichtbar machen. Identifiziert werden konnten technikoptimistische und dystopische Narrative, wie man sie mitunter aus Science-Fiction kennt. Weiterhin weisen die Kommentare darauf hin, wie KI-bezogene Kompetenzen von den Nutzer*innen eingeschätzt, welche Kompetenzanforderungen an die Bevölkerung gerichtet und als wichtig für eine souveräne Lebensführung empfunden werden. Die zweite Studie nahm Menschen mit Migrationsgeschichte in den Blick und fragte in fünf Fokusgruppen nach Diskriminierungserfahrungen bei der Nutzung digitaler Anwendungen. Das Ergebnis: Ein Problembewusstsein für Diskriminierung durch KI-Systeme ist nicht im erwarteten Maß vorhanden. Wie die nichtmigrantische Bevölkerung gehen die Nutzenden davon aus, dass ihre Daten aus unterschiedlichen Apps miteinander verknüpft werden und Algorithmen das, was man zu sehen bekommt, beeinflussen. Einige Befragte gehen davon aus, dass KI ihre Nutzung überwacht und die großen Tech-Unternehmen aus der individuellen Nutzung Profit schlagen. In ihren alltäglichen Medien- und Datenpraktiken zeigen die Teilnehmenden ein Risikomanagement, das auf pragmatischen Fatalismus schließen lässt.

Auch am Standort Ludwigsburg wurden zwei Studien realisiert. Im Mittelpunkt der ersten Erhebung standen die Rahmenbedingungen des Erwerbs von Digitalkompetenzen im Alter. In den Blick genommen wurden sowohl vorhandene Bildungsangebote als auch die Erfahrung derjenigen, die sich in ihrer täglichen Arbeit mit der Medienbildung älterer Menschen beschäftigen. Im Ergebnis unterstreichen die Studien die Notwendigkeit einer stärkeren Binnendifferenzierung. Nach wie vor wird der Vielfalt der Lebens- und Bedarfslagen im Alter nur unzureichend Rechnung getragen. Hochaltrige (vor allem Frauen), ältere Migrant*innen, von Armut Betroffene und ältere Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen werden bislang noch unzureichend beachtet. Vor diesem Hintergrund richtete sich das Augenmerk der zweiten Studie exemplarisch auf den Medienalltag älterer Menschen mit Migrationsgeschichte. Aufgrund kultureller und sprachlicher Barrieren sind digitale Anwendungen hier, so z. B. Übersetzungsfunktionen von Smartphone-Apps bei Behördengängen, unverzichtbare Alltagshelfer. Gleichzeitig stößt der Wunsch, KI-basierte Technologien stärker in den Alltag einzubinden, an finanzielle Grenzen. Geflüchtete und Asylantragstellende, für die der Kontakt zur Heimat mit digitalen Hilfsmitteln essenziell ist, kämpfen mit den Widrigkeiten einer mangelhaften und überlasteten Internetverbindung in Aufnahmeeinrichtungen. Zugleich ist überwiegend nicht bewusst, dass Menschen im höheren Lebensalter (unentgeltliche) Weiterbildungsangebote zur Medienkompetenzförderung in Anspruch nehmen können. Bei der Adressierung Älterer gilt es entsprechend, zukünftig stärker mit Migrationsbüros, Migrant*innen-Selbstorganisationen, örtlichen Kultur- und Seniorenzentren, Beratungsstellen, interkulturellen Büros, Mehrgenerationenhäusern und Nachbarschaftsportalen zu kooperieren.

Vor dem Hintergrund der mannigfaltigen Ergebnisse nutzen wir unser letztes Magazin in der aktuellen Förderphase, um aus dem Projekt heraus übergreifende Überlegungen vorzustellen und haben hierzu die etablierten Rubriken des Magazins modifiziert.

In unserer Rubrik „Begriffe2Go“ greifen wir dieses Mal die aktuell diskutierten Begriffe „Prompt“, „digitaler Wandel/Digitalisierung“, „post-digital“, „digitale Partizipation“ und „Motivation“ auf. Warum wir Motivation in Bezug setzen zu den Kompetenzanforderungen des digitalen Wandels lesen Sie in diesem Beitrag.

Unter „Fünf Fragen aus dem Netz(werk)“ beantworten wir Fragen von verschiedenen Expert*innen und fachlichen Begleiter*innen des Projekts. Konkret stellten uns Jane Müller, Harald Gapski, Guido Bröckling, Andreas Büsch und Markus Marquard ihre Fragen zu Entwicklungen im Projekt – und wir haben geantwortet.

Niels Brüggen und Laura Sūna greifen die Frage auf, was Digitalkompetenz eigentlich ist, und ordnen gängige Kompetenzbegriffe und -konzepte sowie ihre Erweiterungen und Modifizierungen im Hinblick auf den digitalen Wandel ein. Ihr Beitrag verdeutlicht, welche Dimensionen zu bedenken sind, um Kompetenzen im Umgang z. B. mit digitalen Medien, Daten und KI in den verschiedenen Altersgruppen zu fördern.

Inwieweit der Umgang mit KI-Systemen eine Bandbreite unterschiedlicher Gefühle auslöst, thematisieren Laura Cousseran, Laura Sūna, Cornelia Bogen und Achim Lauber. So verbinden Nutzer*innen mit KI-Anwendungen einerseits positive Gefühle wie Erleichterung, aber andererseits auch negative Emotionen wie Genervtsein und Ohnmacht. Für eine lebensweltnahe Förderung von Medien- und Digitalkompetenzen sind die Gefühlswelten der Nutzer*innen bedeutsam, weil sie entscheidend mitbestimmen, wie Menschen sich zukünftig zu neuen Technologien positionieren und mit ihnen zurechtkommen. Wie Nutzer*innen jeweils mit ihren Gefühlen umgehen, unterscheidet sich altersspezifisch, was in medienpädagogischen Kontexten berücksichtigt werden sollte.

Abschließend formulieren Anja Hartung-Griemberg, Katja Berg und Cornelia Bogen Handlungsempfehlungen für eine lebensphasenübergreifende und altersdifferenzierte Förderung von Digitalkompetenzen. Wenn ein angstfreier, kritischer und selbstbewusster Umgang mit digitalen Medien und KI gefördert werden soll, helfen stereotype und undifferenzierte Zuschreibungen oder auch der Vorwurf, ängstlich zu sein, nicht weiter. Der Beitrag zeigt hier andere Wege auf, die in Forschung und Bildungspraxis aufgegriffen werden können.

Und zum Schluss gibt es auch beim Text „Lieber Mensch“ eine Abweichung: Bislang waren hier fiktive Nachrichten an uns Menschen zu finden. Dieses Mal ist es ein Rondell geworden, das zusammen mit ChatGPT verfasst wurde.

Wir wünschen eine inspirierende Lektüre unseres Magazins und freuen uns wie immer über wohlwollendes wie kritisches Feedback.

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