Der Werkstatthocker
Der Werkstatthocker
Sascha Friesike ist Professor für Design digitaler Innovationen. Insofern verwundert es nicht, dass er einen Blick fürs Detail hat. Mitunter treten dabei Irritationen auf, deren Auflösung – fast nebenbei – eine Erklärung für den Einfluss der Digitalisierung auf unsere Kreativität liefert. Ein Plädoyer für mehr Mut zu alternativen Inspirationsquellen.
Vor knapp zehn Jahren bin ich für einige Zeit in Indonesien gewesen. Große Teile des „Expat-Lebens“ fanden dort in Shopping Malls statt. Zum Arbeiten saß ich öfter in Cafés in solchen Malls. Eines Tages sitze ich wieder in einem Café in einer ganz neu gebauten Mall und editiere ein Kapitel für ein Buch. Dabei schweift mein Blick durch das Café, das wie ein Fremdkörper in diesem Einkaufszentrum liegt. Die Mall selbst könnte auch in Dubai stehen, Granit, Glas und Edelstahl, ein begehbares Schaufenster für Gucci-Handtaschen und Luxus-Uhren. Das Café dagegen sieht aus wie der „Werkstatt-Laden“ eines alternativen Wohnprojekts. Altes Industrie-Mobiliar, ein Holzboden, der wirkt, als würde er hier seit 80 Jahren liegen und viel Metall, von dem Farbe abplatzt. Mein Blick bleibt an einer Gruppe Werkstatthocker hängen. Sie sind von „Tolix“, einem französischen Hersteller für Industriemöbel, und sehen aus, als seien sie Jahrzehnte alt. Was machen alte französische Werkstatthocker in einer neu gebauten Luxus-Mall in Jakarta? Und was hat das mit der Digitalisierung unserer Kreativität zu tun?
Um mich nicht mit meiner eigentlichen Aufgabe beschäftigen zu müssen und weil ich das Gefühl habe, hier einem Rätsel auf der Spur zu sein, fange ich an, nach den Hockern zu recherchieren. Und ich stelle schnell fest, dass gebrauchte Hocker, die so aussehen wie die in meinem Café, also so, wie Hocker aussehen, die Jahrzehnte lang in einer französischen Werkstatt herumgeschubst wurden, für deutlich mehr Geld gehandelt werden als fabrikneue Exemplare desselben Herstellers. Diese Hocker sind richtig teuer. Damit vielleicht also doch irgendwie am richtigen Ort hier in dieser Luxus-Mall. Wenn Hocker, die so aussehen, für mehr Geld verkauft werden als fabrikneue Hocker, dann muss es eine beachtliche Nachfrage nach diesen Sitzmöbeln geben.
Was dahintersteckt, fange ich an zu verstehen, als ich nach diesen Hockern auf Instagram suche. Sie tauchen auf zahllosen Bildern von angesagten Cafés auf. Räume, die dafür eingerichtet wurden, fotografiert zu werden, die Fotos zu teilen, mit Schlagworten zu versehen und so für die Cafés Werbung zu machen. Während ich durch die Bilder scrolle, fällt mir noch etwas auf. Egal, ob die Bilder aus Paris, New York oder Tokio kommen, sie sind sich zum Verwechseln ähnlich – überall diese alten französischen Werkstatthocker.
Da muss also in Jakarta jemand den Auftrag bekommen haben, ein Café in einer neu gebauten Luxus-Mall einzurichten. Und diese Person hat dann wahrscheinlich gegoogelt, wie angesagte Cafés denn aussehen, und hat Bilder gefunden, die eben alle wirken wie Werkstatt-Läden alternativer Wohnprojekte. Man hat dann wohl beschlossen, genau solch ein Café auch in Jakarta in die Mall zu stellen. Auch wenn jedem, der an dem Café vorbeigeht, sofort klar sein muss, dass der alte Holzboden deutlich älter ist als das Gebäude, in dem er liegt.
Es gibt in der Soziologie eine fünfzig Jahre alte Theorie, den „Matthäus-Effekt“. Und dieser Matthäus-Effekt beschreibt, warum der Erfolg von gestern so wichtig ist für den Erfolg von morgen. Ursprünglich stammt der Effekt aus der Wissenschaftsforschung und bedeutet, dass viel zitierte Texte auch in Zukunft viel zitiert werden, weil sie heute bereits viel zitiert sind. Wenn ein Text tausend Mal zitiert wurde, dann gibt es nämlich tausend unterschiedliche Stellen, an denen jemand über diesen Text stolpern kann. Jede dieser Stellen birgt eine weitere Chance für zusätzliche Zitate. Und so werden die erfolgreichsten Texte gerade deswegen so oft zitiert, weil sie bereits so oft zitiert wurden. Die Bezeichnung „Matthäus-Effekt“ geht zurück auf eine Bibelstelle, in der es heißt: „Denn wer hat, dem wird gegeben […]“ (Matthäus-Evangelium 25:29). Auch im alltäglichen Sprachgebrauch deuten unterschiedliche Metaphern auf den Matthäus-Effekt hin. So heißt es zum Beispiel „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ oder „Es regnet immer dort, wo es schon nass ist“.
Auch die Erfolgsgeschichte französischer Werkstatthocker in Cafés auf der ganzen Welt basiert auf dem Matthäus-Effekt. Denn im Digitalen ist dieser Effekt noch viel potenter als im Falle ausgedruckter Quellen wissenschaftlicher Arbeiten. Die Digitalisierung bringt uns nicht nur den Zugang zu Informationen per Knopfdruck, sondern ist immer auch bemüht, diese Informationen zu sortieren. Google etwa hat einst damit begonnen, Suchergebnisse danach zu „ranken“, wie häufig auf sie verlinkt wird. Das ist quasi das Web-Äquivalent eines Zitats in der Wissenschaft. Auch Instagram listet uns zu einem Suchbegriff als Allererstes die populärsten Ergebnisse auf, denn das sind eben die, die in der Vergangenheit die größte Resonanz hatten. Der Matthäus-Effekt sagt nun voraus, dass diese populärsten Ergebnisse allein dadurch, dass sie als Erstes angezeigt werden, in ihrer Popularität weiter zunehmen.
Für unsere Kreativität hat das entscheidende Folgen. Die Digitalisierung verspricht ja eigentlich ein Mehr an Inspiration, da unvorstellbare Mengen unterschiedlicher Informationen nur wenige Klicks entfernt sind. Doch wer blättert je auf die fünfte Seite der Suchmaschinenergebnisse? Wir alle finden mehr oder weniger die gleichen Bilder, wenn wir nach angesagten Cafés suchen, und wir alle gehen deswegen davon aus, dass in solch einem Café französische Werkstatthocker stehen müssen, ganz egal ob es sich in Frankreich, in Tokio oder in einer neu gebauten Luxus-Mall in Jakarta befindet. In der Folge werden alte französische Hocker teuer, es entsteht eine regelrechte Blase, die erst dann platzt, wenn sie dem nächsten Trend weichen muss.
Der Matthäus-Effekt beschäftigt sich eigentlich mit Erfolg und nicht mit Kreativität. Ein wissenschaftlicher Text, der viel zitiert wird, gilt als besonders relevant. Wäre er nicht besonders relevant, so die Logik, würde er nicht so oft zitiert werden. Man findet den Matthäus-Effekt aber auch außerhalb der Wissenschaft überall. So ist beispielsweise der Lernerfolg von Kindern mit großem Vorwissen größer als bei denen mit weniger Vorwissen. Spotify schlägt uns die Lieder vor, die schon oft gehört wurden. Und auch die populärsten Podcasts werden wohl am häufigsten empfohlen. Der Matthäus-Effekt wirkt wie ein Weichzeichner. Eine tatsächlich vielseitige Landschaft wird nicht als solche wahrgenommen. Nuancen verschwinden. Aber für die Kreativität sind genau diese Nuancen Quellen der Inspiration. Sie erlauben neue, unerwartete Blickwinkel, Perspektivwechsel.
Es gibt sicherlich immer wieder Situationen, in denen es nicht darum geht, die Welt mit anderen Augen zu betrachten. Situationen, in denen etwas nachgemacht werden soll, in denen an den Erfolg von anderen angeknüpft wird und man möglichst nah am „Original“ bleibt. Aber es gibt immer wieder auch Kontexte, in denen es darum geht, etwas zu entwickeln, das es so vorher noch nicht gab: Inspirationen aufzutreiben, die andere nicht gefunden oder übersehen haben, und diese dann neu zu verarbeiten. Und wenn wir in solch einer Situation eine Suchmaschine zurate ziehen, um uns inspirieren zu lassen, dann muss uns klar sein, dass das, was uns gezeigt wird, genau die Inspirationsquellen sind, die auch alle anderen gefunden haben, die in der Lage waren, eben jene Suchbegriffe einzutippen. Im Kleinen kann es uns schon helfen, den Effekt zu kennen. Denn dann können wir einordnen, dass wir im Grunde nur das tun, was andere auch tun, die in ähnlichen Situationen sind.
Und wenn uns das auffällt, können wir dem entgegenwirken. Wir können Quellen der Inspiration heranziehen, die andere nicht kennen oder über die andere noch nicht gestolpert sind. Vielleicht auch, indem wir uns nicht vom Algorithmus lenken lassen. Indem wir beispielsweise ganz analog in eine Bibliothek gehen, um dort nicht über Bücher zu stolpern, die oft geklickt wurden, sondern über die, die eine thematische Nähe zueinander haben, im selben Regal stehen und die wir sonst nie gefunden hätten. Im Großen werden wir uns jedoch darauf einstellen müssen, dass der Matthäus-Effekt unsere Welt ein ganzes Stück uninspirierter macht, als uns das vielleicht lieb ist.
Werkstatthocker in viel zu teuren Cafés am anderen Ende der Welt sind dabei nur ein Symptom eines generellen Trends. Und es hilft wahrscheinlich auch nicht viel, wenn man weiß, dass auch ein Matthäus-Effekt eine Halbwertszeit hat. Bücher auf Bestsellerlisten verkaufen sich nicht ewig gut und auch französische Werkstatthocker sind heute nicht mehr ganz so gefragt, wie damals. Vielleicht hilft es auch, sich inspirierendere Orte zum Arbeiten zu suchen, als man sie typischerweise in Luxus-Malls findet…
Zitation
Friesike, S. 2021: Der Werkstatthocker. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/kreativitaet/werkstatthocker/