Von Datenspuren und Datenbewusstsein im Alltag – zum Verständnis von Medien- und Datenpraktiken
Von Datenspuren und Datenbewusstsein im Alltag – zum Verständnis von Medien- und Datenpraktiken
Was wissen Menschen heutzutage über die Daten, die sie während ihrer Mediennutzung generieren und (unbemerkt) weitergeben? Inwieweit können sie einschätzen, welche Konsequenzen ihre Datenspuren für ihr privates, berufliches und öffentliches Leben bedeuten? Der Beitrag nimmt solche Fragen als Ausgangspunkt und betrachtet Datenpraktiken und Möglichkeiten souveräner Lebensführung in durch digitalen Wandel geprägten Gesellschaften.
Daten können hilfreich und auch überfordernd sein, sie können notwendiger- oder überflüssigerweise erhoben werden, sie dienen als Basis für bestimmte Vorhersagen oder der Verifizierung von subjektiven Eindrücken. Man denke etwa an das Wetter, an körperliche Leistungen oder Krankheiten: Einem ist kalt, aber das Thermometer zeigt 22 Grad an. Die Smartwatch errechnet die gelaufene Strecke, den Kalorienverbrauch, die Fettverbrennung. Man fühlt sich erschöpft und die Blutwerte geben Aufschluss über die Ursachen. Daten spielen folglich in vielen Situationen und bei etlichen Entscheidungen im Alltag eine bedeutsame Rolle.
Menschen moderner Gesellschaften sind von digitalen Daten umgeben, auf sie angewiesen und von ihnen zuweilen abhängig, aber sie wissen kaum, um welche und wie viele persönliche Daten es sich handelt, die von ihnen und über sie kursieren und gespeichert sowie zu welchen Zwecken ausgewertet werden (D21 Digital-Index 2021/2022) [1] . Der folgende Beitrag widmet sich zunächst dem Verständnis von Medien- und Datenpraktiken im Alltag, des Weiteren den Möglichkeiten der Datenkontrolle und dem Datenbewusstsein von Menschen.
Medien- und Datenpraktiken
Die Struktur moderner Gesellschaften erzeugt – folgt man dem Soziologen Armin Nassehi (2019, S. 67) [2] – einen „Bedarf für die Verwendung von nicht unmittelbar sichtbaren und in diesem Sinne datenförmigen und damit zählbaren Formen der Informationsverarbeitung“. Digitale Technologien werden in vielen Teilsystemen der Gesellschaft benötigt: in der Wirtschaft, den Finanzmärkten, im Marketing, aber auch im Journalismus, in der Medizin, Meteorologie, Raumfahrt, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie etablieren sich aber auch sukzessive im Alltag, im häuslichen und konsumorientierten, im kulturellen Bereich sowie in Bildungs- und Freizeitkontexten. Das Digitale ist omnipräsent, aber irritiert die alltäglichen Lebensbereiche weniger radikal als gemeinhin angenommen. Im Hinblick auf den Wandel der Kommunikation mittels Internet wird vom Beginn einer neuen Ära oder auch einer neuen (vierten) Medienrevolution gesprochen (siehe u. a. Seemann 2021) [3] . Aber die Gesellschaft ist anpassungsfähig und richtet ihre Erwartungsstrukturen mit der Zeit an den neuen medialen Gegebenheiten aus. Es entfalten sich mit den modifizierten und sich stets neu generierenden kommunikativen Möglichkeiten neue Erwartungserwartungen, nicht nur von Nutzer*innen sondern auch von Institutionen (z. B. der Schule, der Arbeitsstelle, von Behörden). Ständig gilt es zu sondieren, wie sich die Erwartungen von den Mitgliedern und Systemen einer datafizierten Gesellschaft verändern. Es bilden sich weiterhin kulturelle Praktiken aus und darüber Standards des Miteinanders oder auch im Umgang mit Daten (Burgess et al. 2022 [4] ; Seemann 2021).
Was unter „Daten“ und vor allem „digitalen Daten“ verstanden wird, variiert je nach Kontext und wissenschaftlicher Disziplin (im Überblick u. a. Burkhardt et al. 2022 [5] ; Dander 2014 [6] ). Grundsätzlich gilt, dass Daten für jemanden oder für etwas produziert, erhoben, gespeichert, verarbeitet und wiederum zur Verfügung gestellt werden. Sie tragen zum Weltverständnis und zur Wirklichkeitskonstruktion der Individuen bei (nicht erst in der Covid-19‐Pandemie). Sie zeigen, „wie die Welt gegeben ist“ (Nassehi 2019, S. 77). Das datum ist in etymologischer Hinsicht das Gegebene, dessen „Gegebenheit stets auf [seine] Verarbeitung angewiesen ist“ (ebd.). Im digitalen Zeitalter sind Daten immer weniger für die datenerzeugenden Nutzer*innen sichtbar, sie werden als Hintergrundoperationen ausgeführt sowie anlass- und ereignisbezogen unmittelbar oder zu einem späteren Zeitpunkt relevant. „Daten können durch die Verbindung mit später erhobenen Daten vollkommen andere Informationen bereitstellen, als jene, die bei ihrer ursprünglichen Erhebung interessierten“ (Waldecker 2022, S. 151) [7] . Zuweilen werden Daten eben auch nur auf entfernten Servern gespeichert und für noch unbestimmte Zwecke von Privatunternehmen, aber auch von Staaten archiviert (Burgess et al. 2022; Zuboff 2019 [8] ).
Während Medienpraktiken auf das Tun des Menschen mit Medien abzielen und auch den Bezug zu Medien in einer ganzen Reihe von Situationen und Kontexten einbeziehen (Couldry 2012) [9] , handelt es sich bei Datenpraktiken um die Prozesse der Erzeugung, Verbreitung und Interpretation von Daten, die ihnen überhaupt erst eine Bedeutung geben (Waldecker 2022, S. 151). Oftmals werden „die Datenpraktiken, die zur Verwendung [eines, Einfügung d. A.] Dienstes notwendig sind, verschleiert, während die Medienpraktiken in den Vordergrund gestellt werden“ (ebd., S. 151). Das Versprechen des Nutzens bzw. die Motivation für die Mediennutzung wird bedeutsam und in der Regel lenken sie von den Datenverarbeitungsprinzipien im Hintergrund ab. Diese sind zunehmend für die Nutzer*innen kaum nachvollziehbar und nicht selten das Geschäftsgeheimnis von Tech-Unternehmen und Plattformbetreibern.
Möglichkeiten der Datenkontrolle
Bei der Verwendung digitaler Medientechnologien ist das Datenmanagement schwierig, ebenso wie die Kontrolle privater Daten, deren Weitergabe und Veröffentlichung. Plattformbetreiber legen bis zu einem gewissen Grad in den Nutzungsbedingungen ihrer Apps dar, welche Daten erhoben werden, welche Ziele Algorithmen verfolgen und welchen Nutzen sie bieten (können).
Mit der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die seit 2018 EU-weit gilt, ist man darum bemüht, die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Verantwortlichen, sowohl private wie öffentliche, einheitlich zu regeln und zu handhaben. Einerseits soll der Schutz personenbezogener Daten innerhalb der Europäischen Union sichergestellt und andererseits der freie Datenverkehr innerhalb des europäischen Binnenmarktes gewährleistet werden.
Cookies sind das gängigste Beispiel für Datenpakete, mithilfe derer Webanwendungen personenbezogene Daten sammeln, um beispielsweise Login-Daten, Surfverhalten, Einstellungen und Aktionen in Webapplikationen zu speichern. Nutzer*innen werden vor dem Zugriff auf bestimmte Dienste um Zustimmung zu solchen Datenspeicherungen/-verarbeitungen gebeten – je nach Nutzungsverhalten bei jedem Aufruf einer Website und meistens mehrmals am Tag. Der Microblogging-Dienst Twitter lässt die Nutzer*innen bestimmte Einstellungen ‚ihres‘ Algorithmus vornehmen und erlaubt die Archivierung der eigens produzierten Daten. Der Techkonzern Amazon gewährt Smartspeaker-Nutzer*innen in ihrem Nutzerkonto Einsicht in die Datenverlaufsprotokolle, d. h. die Aufzeichnungen ihrer Interaktionen mit dem Gerät als Text und in Form von Audiodateien. Oftmals empfinden Nutzer*innen ein Unbehagen bei dem Gedanken an die digitale Überwachung durch die Konzerne, andererseits wissen sie häufig auch nicht, wie sie ihre Daten (besser) kontrollieren und organisieren sowie ihre Datenspuren verwischen oder eliminieren können (Zurawski 2021) [10] .
Datenbewusstsein von Menschen
Dass Menschen in ihrem täglichen Medienhandeln Datenspuren im Netz hinterlassen, ist bekannt und nicht zuletzt oft Gegenstand der öffentlichen Medienberichterstattung. Gleichwohl kennen sich viele Nutzer*innen des Internets nur bedingt mit Datenschutzproblematiken aus (vgl. Pfaff-Rüdiger et al. 2022) [11] . Im alltäglichen Medienhandeln verschwindet auch oftmals das Bewusstsein für den Umgang und die Preisgabe von persönlichen Daten – es müssen unmittelbar Entscheidungen getroffen werden. Dieser pragmatische und zuweilen fatalistische Umgang ist auf den „Aspekt der Lebenserleichterung zurückführen, zumindest wenn es um die Argumente ihrer Nutzung“ (Zurawski 2021, S. 43) geht.
Ein Beispiel: Man sucht etwas mittels Suchmaschine oder auf einem Videoportal, möchte schnell Zugang zu dem Gesuchten. Es öffnet sich automatisch auf dem Bildschirm ein Dokument mit den aktuellen Datenschutzbestimmungen und dem Hinweis auf die Verwendung von Cookies, versehen mit Auswahlmöglichkeiten „Weitere Optionen“, „Alle ablehnen“ und „Alle akzeptieren“. Dieses Prozedere ist allen Nutzer*innen bestens vertraut. Ein schneller Klick auf Letzteres ohne vorheriges Studieren des Dokuments ist wohl der Regelfall.
Zuweilen machen es einem die Tech-Unternehmen aber auch nicht gerade leicht, will man etwa der Nutzung von Tracking nicht zustimmen. Oftmals versteht man gar nicht, was man konkret wie einstellen soll, um Datentracking zu verhindern, und die Einstellungsoptionen befinden sich außerdem eher versteckt in Untermenüs. Es sind die Routinen, so Zurawski (2021), die die Gewöhnung an Überwachung induzieren. Zudem ist es die Bequemlichkeit der Konsument*innen, die soziotechnische Arrangements mit den zugehörigen Überwachungspraktiken doch in Kauf zu nehmen (Knorre et al. 2020, S. 197 f.) [12] – unter anderem, weil der Verweis auf die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) als durch staatliche Instanzen geprüfte Inhalte bestätigt werden. Man muss sich als Einzelne*r so oft an einem Tag zu den Datenschutzbestimmungen verhalten, dass Abstumpfung die Konsequenz ist. Zudem sind die Konsequenzen der Datenverfolgung nicht immer klar und nur bedingt, d. h. nicht unmittelbar, als Sanktion oder Intervention, als Störung der Nutzung oder als Benachteiligung, spürbar. Gerade auch weil die kumulierten Daten erst später neue Informationen bereitstellen können. Doch nur, wenn man die Wirkmächte digitaler Daten nicht nur verstehen, sondern auch reflektieren kann, so Leineweber (2021, S. 148) [13] , kann man „einen Anspruch an die subjektive Urteilsfähigkeit stellen“.
Nicht zuletzt übt allerdings auch das soziale Umfeld (etwa die Peers, die Familie, der Verein) Druck aus, der Datenschutzproblematiken in den Hintergrund rücken lässt (u. a. Eggert 2019) [14] . Will man sich am Elternchat der Schule oder dem Vereinsaustausch beteiligen, muss man der Nutzung von WhatsApp auch unter Bedenken zustimmen. Hier findet also eine doppelte Unterwerfung statt: Man ordnet sich dem Gruppenzwang und den Logiken der Plattformbetreiber unter.
Welche Kompetenzen werden nun für einen selbstbestimmten Umgang mit Daten sowie der sogenannten Datensouveränität benötigt? Es sind ein allgemeines Wissen und Verständnis darüber erforderlich, dass und welche Daten während der Mediennutzung erhoben werden und wie diese unter anderem für KI-Systeme und unterschiedliche private sowie staatliche Akteure relevant werden können. Ferner ist ein kritisch-reflexives Hinterfragen der individuellen routinisierten Datenpraktiken wichtig. Auch ist eine sozial-affektive Einschätzung der Risiken und Chancen der eigenen Datenpraktiken sowie dementsprechend deren Anpassen essenziell. Nicht zuletzt braucht man eine gewisse Kreativität im Umgang mit den Anforderungen der Datenfreigabe und der Anpassung der eigenen Medienpraktiken. Insgesamt ist mit Jane Müller und Kolleg*innen (2020, S. 32) [15] zu betonen, dass Datensouveränität nicht nur von den individuellen Fähigkeiten eines Individuums abhängt, sondern auch durch technische, juristische und soziale Rahmenbedingungen geprägt wird.
Literatur
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- D21 Digital Index 2021/22 (2022). Jährliches Lagebild zur Digitalen Gesellschaft. Initiative D21 e. V. https://initiatived21.de/d21index21-22/ [Zugriff: 02.12.2022]↩
- Nassehi, Armin (2019). Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck.↩
- Seemann, Michael (2021). Die Macht der Plattformen: Politik in Zeiten der Internetgiganten. Berlin: Aufbau Verlag.↩
- Burgess, Jean/Albury, Kath/McCosker, Anthony/Wilken, Rowan (2022). Everyday Data Cultures. Cambridge: Polity Press.↩
- Burkhardt, Marcus/van Geenen, Daniela/Gerlitz, Carolin/Hind, Sam/Kaerlein, Timo/Lämmerhirt, Danny/Volmar, Axel (2022). Introduction. In: Burkhardt, Marcus/van Geenen, Daniela/Gerlitz, Carolin/Hind, Sam/Kaerlein, Timo/Lämmerhirt, Danny/Volmar, Axel (Hrsg.), Interrogating Datafication. Towards a Praxeology of Data. Bielefeld: transcript, S. 9–36.↩
- Dander, Valentin (2014). Von der ‚Macht der Daten‘ zur ‚Gemachtheit von Daten‘. Praktische Datenkritik als Gegenstand der Medienpädagogik. In: Mediale Kontrolle unter Beobachtung, 3 (1), S. 1–21. doi: 10.25969/mediarep/13783↩
- Waldecker, David (2022). Zur empirischen und theoretischen Kritik der Datensouveränität anhand der Smart-Speaker-Nutzung. In: merz Wissenschaft, 66(5), S. 147–157.↩
- Zuboff, Shoshana (2019). The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power. New York: PublicAffairs.↩
- Couldry, Nick (2012). Media, Society, World. Social Theory and Digital Media Practice. Cambridge: Polity.↩
- Zurawski, Nils (2021). Überwachen und konsumieren. Kontrolle, Normen und soziale Beziehungen in der digitalen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.↩
- Pfaff-Rüdiger, Senta/Herrmann, Simon/Cousseran, Laura/Brüggen, Niels (2022). Kompass: Künstliche Intelligenz und Kompetenz 2022. Wissen und Handeln im Kontext von KI. München: kopaed.↩
- Knorre, Susanne/Müller-Peters, Horst/Wagner, Fred (2020). Die Big-Data-Debatte. Chancen und Risiken der digital vernetzten Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Gabler.↩
- Leineweber, Christian (2021). Digitale Aufklärung? Datenkritik und Urteilsfähigkeit. In: Leineweber, Christian/de Witt, Claudia (Hrsg.), Algorithmisierung und Autonomie im Diskurs – Perspektiven und Reflexionen auf die Logiken automatisierter Maschinen. Hagen: Fernuniversität in Hagen, S. 125-154.↩
- Eggert, Susanne (2019). Familiäre Medienerziehung in der Welt digitaler Medien: Ansprüche, Handlungsmuster und Unterstützungsbedarf von Eltern. In: Fleischer, Sandra/Hajok Daniel (Hrsg.), Medienerziehung in der digitalen Welt. Grundlagen und Konzepte für Familie, Kita, Schule und Soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer, S. 105–118.↩
- Müller, Jane/Thumel, Mareike/Potzel, Katrin/Kammerl, Rudolf (2020). Digital Sovereignty of Adolescents. In: MedienJournal, 44(1), S. 30–40. doi: 10.24989/medienjournal.v44i1.1926↩
Zitation
Hoffmann, D.; Sūna, L. 2022: Von Datenspuren und Datenbewusstsein im Alltag – zum Verständnis von Medien- und Datenpraktiken. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/daten/datenbewusstsein-datenpraktiken/.